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weinender_Junge

Mein abendlicher Wahnsinn

Schon wieder weit nach offiziellem Dienstschluss sprinte ich zu meinem Auto und versuche dieses möglichst schnell durch den Berliner Berufsverkehr zu manövrieren. Ich versuche die vorwurfsvolle Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, die im beleidigten Tonfall meines Sohnes bemängelt, dass er bestimmt wiedermal eines der letzten Kinder in der Kita sein wird. Verzweifelt stelle ich stattdessen, eine Einkaufsliste zusammen, wohlwissend, dass diese passé sein wird, sobald ich den Einkaufswagen in der Hand habe.
Im Sturmschritt betrete ich die Kita. Ben fängt, sobald er mich erblickt, an zu schreien: Er wolle jetzt nicht los, gerade sei er mitten im Spiel und überhaupt passiert immer alles so, wie ich es wolle!
Die Hitze im Gebäude, das laute Geschrei meines Sohnes, die innere Anspannung - das alles sorgt dafür, dass ich mich fühle, als wäre ich im vollen Sprint gegen eine Mauer gerannt. Aber ich habe jetzt weder Zeit für Kopfschmerzen, noch für brüllende Kinder. Wir müssen noch einkaufen und Ben muss pünktlich ins Bett, damit das Aufstehen morgen früh nicht zwangsläufig zur Tortur wird.

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Also packe ich Ben recht unfreundlich am Arm und schleife ihn in die Garderobe. Natürlich muss ich ihn anziehen und natürlich wehrt er sich mit Händen und Füßen. Durchgeschwitzt treten wir nach draußen, wo sich Ben endlich beruhigt. Er wolle noch schaukeln - wir haben keine Zeit und müssen noch einkaufen. Maulend setzt er sich Richtung Auto in Bewegung.
Einkaufswagen Und natürlich - kaum hab ich den Einkaufswagen in der Hand, schon ist die interne Einkaufsliste verschwunden. Es ist voll, laut und ich versuche mit möglichst wenigen Zusammenstößen und ohne Ben zu verlieren, den Einkaufswagen durch die Regalreihen zu schieben. Selbstverständlich bleibt Ben bei den Süßigkeiten hängen. Er wolle noch dies und außerdem auch das. Er hat jetzt Hunger und braucht unbedingt Schokolade, Lutscher, Bonbons, Gummibären - und zwar sofort und in dieser Reihenfolge.
Zu keinem Kompromiss bereit sage ich klar und deutlich: NEIN, was meinen Sohn veranlasst sich auf den Fußboden zu werfen, mit den Händen wild um sich zu schlagen und laut nach dem Jugendamt zu schreien.
Ich bin am Ende! Das ist einfach zu viel! Am liebsten würde ich mich dazulegen und mir gemeinsam mit ihm meinen Frust von der Seele schreien. Nur die Angst vor der Einweisung in die Psychatrie bewirkt, dass ich lediglich auf den Griff des Einkaufswagens sinke und mit den Tränen kämpfe. Was soll ich tun? Ihn einfach liegen lassen und so tun, als ginge mich das alles nichts an? Ihn in den Einkaufswagen zu den Lebensmitteln stecken und mich damit trösten, dass eh alles in einen Magen kommt? Ihm Schokolade, Gummibärchen & Co. kaufen, damit ich für heute meine Ruhe und beim nächsten Mal noch größeren Stress habe?
Ich bin verzweifelt und ratlos und weil die Leute bereits gucken, weil nix besser zu werden scheint, schlage ich Ben einen Kompromiss vor: Wir kaufen wirklich viel zu viel von den Dingen, die er möchte, er steht auf und absolviert den Einkauf ohne weiteres Theater und bekommt draußen im Auto einen Teil der gekauften Süßigkeiten.
Der weitere Einkauf verläuft relativ ruhig, was auch daran liegt, dass ich einige Male drohe, die Süßigkeiten komplett wieder auszupacken.
Zu Hause angekommen schleppe ich die Einkäufe nach oben. Immerhin: Ben läuft selbständig - natürlich viel zu langsam ... meine Arme werden dank der Einkaufstüten immer länger, meine Nerven immer dünner.

Endlich schläft Ben!

Als sich die Tür des Kinderzimmers am Abend das letzte Mal schließt, schaltet mein Hirn sofort auf StandBy und mein Körper agiert komplett selbständig. Eine Hand greift nach der Fernbedienung für den Fernseher, die andere nach der Schachtel Pralienen. Meine Beine bringen mich zur Couch und mein Hintern macht es sich auf dieser bequem. Eine Praliene nach der anderen wandert in meinen Mund und mein Hirn wird erst munter, als die Hand mehrere Male leer im Mund ankommt. Erstaunt stelle ich fest, dass die Schachtel in der Tat leer ist. Ich muss auf der Verpackung nachschauen, um Bauch mit Mund festzustellen, welche Sorte ich in mich reingestopft habe. Nicht eine der Pralienen habe ich genossen, aber alle landen auf meiner Hüfte. Mein Blick wandert auf meinen dicken Bauch, der sich seinen Weg unter dem T-Shirt hervor gebahnt hat, mich angrinst und nach Mehr verlangt.
Ich bin entsetzt. Ist das wirklich mein Leben? War das schon alles? Zu dick auf der Couch sitzen, essen ohne es wahrzunehmen und eine dröge Abendserie schauen, bis ich müde ins Bett falle, damit der Wahnsinn am nächsten Morgen von vorn losgeht?
Ich koche mir einen Tee, setze mich ans Fenster, schau in die Dunkelheit und lasse einige Minuten die Gedanken kreisen. Der Frust kommt hoch, die Trauer über das Leben, das ich so nicht will.
Mir fällt der Wahnsinn auf: erst mach ich nach dem Büro Stress, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, dass Ben einer der letzten sein wird, um mich dann von meinem Sohn beschimpfen lassen zu müssen, dass ich jetzt schon auf die Idee komme, ihn mit nach Hause nehmen zu wollen.
Der Stress im Supermarkt! Jedesmal das Gleiche! Und mir scheint, dass es bei den Vorzeichen auch gar nicht anders geht. Natürlich ist es voll - ist es um diese Zeit immer. Dann die Schlepperei ...
Was kann ich ändern?
Wir bräuchten mehr Zeit. Wir müssten weniger oder besser gar nicht einkaufen gehen. - Es sind nur diese zwei Sachen, die viel verbessern würden.
Ich werfe den PC an und gucke im Internet. Und siehe da. Es gibt die Möglichkeit online einkaufen zu gehen - auch Lebensmittel, Drogerie- und Hygieneartikel. Ich entscheide mich für Lebensmittel.de. Dort bekommt ich alles wie in einem großen Supermarkt.

Einige Wochen später:
Einmal in der Woche bestelle ich bei Lebensmittel.de die wesentlichen Dinge, die wir brauchen. Das sind vor allem die großen, sperrigen und schweren Sachen, wie:

So spare ich mir das Schleppen von schweren Einkaufstüten und den vollen Einkaufswagen. Wenn ich noch Kleinigkeiten brauche, kann ich mit Ben in Ruhe durch die Regalreihen schlendern oder, wenn ich merke, dass ich schon vorher gestresst bin, besorge ich sie, bevor ich Ben abhole.
Ich habe gemerkt, dass MEIN schlechtes Gewissen mich in die Kita jagt. Ben ist gern dort und bleibt auch gern noch fünf Minuten länger, wenn ich Glas Wein dafür in Ruhe ankomme. Weil wir nicht mehr dringend einkaufen müssen, ich nicht so gehetzt bin, reagiert Ben gelassener. Er weiß, dass er mit mir reden und auch noch ein paar Minuten das Spiel beenden kann. Er zeigt mir, woran er gerade sitzt und ich sehe meinen Sohn das erste Mal seit langem wieder bewusst an, erfreue mich an seinen tief-braunen Augen und dem verschmitzten Blick.
Der Abend wird insgesamt ruhiger. Wir sind friedlicher miteinander und wenn ich dann Zeit für mich hab, bin ich nicht so fertig, dass mir nur noch die Flucht in die Pralienenschachtel bleibt. Meist setze ich mich wirklich erstmal für einige Zeit ans Fenster, trinke Tee oder ein Glas Wein und esse manchmal auch genussvoll ein Stück Schokolade.Es geht mir nicht darum abzunehmen, sondern darum Schokolade als Genussmittel anzusehen und einzusetzen und nicht als Flucht vor dem stressigen Alltag.

Autorin: Katarina Telschow